Die Krise als Chance verstehen – wie der Autohandel den Strukturwandel aktiv gestalten kann
Lässt sich die Automobilbranche neu interpretieren?
Individuelle Mobilität bedeutet Freiheit, die jedem Menschen zusteht und zugänglich gemacht werden muss. Der Anspruch der Politik wie auch der Mobilitätsindustrie – Auto-, Flug- und Bahnverkehr wie auch alle anderen Mobilitätsanbieter gleichermaßen – muss es sein, diese Freiheit für die Menschen zu schützen, die sie bereits haben, sie für jene zu eröffnen, die sie sich wünschen oder benötigen, und sie auch für kommende Generationen zu sichern.
Der Automobilhandel in Deutschland steckt seit Langem in der Krise: Zuerst ist durch den Dieselskandal viel Vertrauen bei Öffentlichkeit und Kunden verloren gegangen. Die ehemalige Vorzeigeindustrie Deutschlands hatte praktisch über Nacht ihren Sympathiebonus verspielt. Danach haben anhaltende Diskussionen über CO2-Grenzen, mögliche Fahrverbote in Innenstädten und eine groß angekündigte (aber bisher ausgebliebene) Mobilitätswende hin zur Elektromobilität zu einer Verunsicherung bei den Verbrauchern geführt. Verschobene Fahrzeuganschaffungen und damit sinkende Verkaufszahlen ließen die ohnehin schon schmalen Margen im Handel weiter bröckeln – nicht zuletzt auch befeuert durch die zunehmende Konkurrenz aus dem Internet von Online-Vermittlern und unabhängigen Leasinggesellschaften. Das Geschäft befindet sich in einer gefährlichen Abwärtsspirale: um Boni oder Zielprämien zu erreichen, müssen immer größere Stückzahlen vermarktet werden. Die Lagerbestände werden dabei immer weiter hochgefahren, die Liquidität maximal ausgelastet. Damit steigt die Krisenanfälligkeit der Unternehmen. Sobald der Markt nur leicht schwächelt, müssen die Bestände reduziert, die Fahrzeuge verkauft werden – koste es, was es wolle. An der Börse nennt man dieses Phänomen „Margin Call“ – der Zeitpunkt, an dem alle verkaufen müssen, um ihre Mindestmarge zu halten und die Preise ab da nur noch einen Weg kennen – abwärts.
Die jungen Käuferschichten brechen gerade weg, weil der Sinn für diese Art der Mobilität nicht mehr verstanden wird. Gerade in den Städten verzichten immer mehr Menschen auf das eigene Auto und nutzen einen individuellen Mix aus Car Sharing, Ride-Hailing-Bussen und Bahnen, Leihrädern oder E-Scootern. Das eigene Auto wird hier zur Last: die Anschaffung eines Neuwagens lohnt sich für Privatpersonen kaum noch, denn der wirtschaftliche Verfall ist enorm. Darüber hinaus stellen auch die Haltungskosten eine Belastung dar. Der Kosten-Nutzen-Verhältnis wird zunehmend unausgeglichener. Wer jüngst in den Innenstädten einen Parkplatz gesucht hat, versteht zudem auch den Ärger, den das Autofahren in der Stadt regelmäßig bereitet.
Weniger Autofahren bedeutet nicht, dass die Menschen weniger mobil sind. Im Gegenteil: Die Zahl der zurückgelegten Kilometer pro Person stieg in den vergangenen Jahren stetig. Diese Trendrichtung wird in den kommenden Jahren anhalten. Mobilitätsdienstleister sind erfolgreich, wenn sie technologisch up to date, ökologisch nachhaltig und leistbar sind, im Ride Sharing, dem On-Demand-Mobilitätsangebot oder bei der Anschaffung des Familienwagens. Gewinnen werden jene, die es am besten verstehen, Mobilitätsdienstleistungen in ökologisch umgesetzten Geschäftsprozessen zu bündeln. Die Antriebskraft wird zweitrangig. Zählen wird die nachweislich nachhaltige Umsetzung des am einfachsten zu erwerbenden und preislich attraktivsten Angebot am jeweiligen Markt.
Für den Automobilhandel bedeutet dies, sich vom Neu- und Gebrauchtwagenverkäufer zum Mobilitätsvertrieb zu entwickeln. Erfolgreiche Anbieter messen sich 2025 nicht mehr nur an der Anzahl der verkauften Fahrzeuge, sondern auch am Gewinn pro Personenkilometer – für die meisten ein völlig neues Konzept. Das Auto der Zukunft ist ein Fahrzeug on Demand, das selbständig dorthin fährt, wo es gebraucht wird.
Der Autohandel muss sich neu erfinden
Es gilt, die Mauer zwischen dem Online- und dem Offline-Geschäft im Automobilhandel einzuschlagen und beide Vertriebswege miteinander zu verknüpfen. Der physische Touchpoint des Autohauses bringt das Markenerlebnis auf dem Punkt. Jedoch werden neue Konzepte für einen Omnichannel-Handel relevanter, Kreativität und Abwechslung ist gefragt: Ein Pop-Up-Store, ein Shop-in-Shop, ein Outdoor-Showroom oder ein Mobility-Shop, in welchem unterschiedliche Mobilitätsangebote zur Verfügung stehen. Dem Autohandel wird Einfallsreichtum abverlangt, der zumeist fehlt. Ideenreiche Händler wie das Autohaus König aus Berlin, welches seit dem 08. Juni seine Fiat-500-Modelle über den Elektrohändler Media Markt anbietet, sind eine Seltenheit.
Das genannte Beispiel erschlägt gleich zwei grundlegende Probleme des Autohandels: Die Schwierigkeit, Zugang zum von der digitalen Einkaufskultur geprägten Kunden zu erhalten einerseits, und andererseits den Kaufprozess als anregende Customer Journey zu gestalten, welche die Online-Kanäle (derzeit noch primär in der Informationsphase genutzt) und die Offline-Kanäle (wie Probefahrt, Verkaufsgespräch oder die Servicetermin-Vereinbarung) durchgängig und optimal verknüpft. Datenbrillen, virtuelle Showrooms und / oder Videoberatungen füllen die Autohäuser nicht, erzeugen jedoch Aufmerksamkeit und treiben den bequemen Kunden von der Couch. Schon längst müssten diese Angebote zum Standard-Repertoire der Händler gehören. Die Herausforderung besteht darin, Digitalisierung als ganzheitliche Strategie für das gesamte Unternehmen und nicht nur als Ansammlung vereinzelter Maßnahmen zu sehen. Ein zukünftiges Geschäftsmodell sollte deshalb die Frage beantworten, welche Absatzkanäle morgen überhaupt noch existieren und über welche neuen digitalen Kanäle das Unternehmen seine Produkte und Dienstleistungen anbieten kann. In der Praxis stellen sich jedoch immer noch zu wenige Autohaus-Unternehmer diese Fragen. Der Grund liegt vielfach in einem Generationen-Thema: die aktive Führungsmannschaft entstammt oftmals einer alten Industriewelt, in der der Hersteller vom Band schickte, was der Handel verkaufen sollte. In der neuen, digitalen Welt bestimmt jedoch der Kunde, was er wann / wo / von wem kauft.
Bereits heute treiben verschiedene Marken eine Netzkonsolidierung voran und versuchen, die Anzahl ihrer Partnerhändler zu reduzieren. Im urbanen Raum werden neue Formate das klassische Autohaus Schritt für Schritt ersetzen. Da die Margen weiter schrumpfen, werden sich Autohändler zusammenschließen, um einerseits von Größenvorteilen zu profitieren und andererseits die nötigen finanziellen Mittel für Investitionen in die Zukunft aufbringen zu können. Diese Händlerallianzen werden zunehmend versuchen, eine eigene Marke aufzubauen, diese online und offline als Plattformen zu etablieren und sich als Anbieter verschiedener Marken von den Herstellern unabhängiger zu machen. Damit gleichen sich Autohändler den Supermärkten an, ein Geschäft, das von einigen wenigen Riesen dominiert wird.
In sogenannten Megastores kann der Neuwagenkunde Produkte und Preise markenübergreifend vergleichen. Er findet damit die gewohnte Transparenz aus der digitalen Welt an einem physischen Ort wieder. Der Unterschied zum Internet: Megastores und Markenboutiquen punkten immer auch mit hochwertiger Beratung, die zumindest mittelfristig bei einem technologisch immer anspruchsvoller werdenden Produkt (insbesondere in der Mensch-Maschine-Kommunikation) von hoher Relevanz sein wird. Soweit die Theorie.
Die Unternehmer müssen jetzt handeln
Die Corona-Krise offenbart ein weiteres Problem der geringen Reserven: bundesweit mussten Autohäuser ihre Verkaufsräume für mehrere Wochen schließen. Etwa 70% der Betriebe hatten nach einer Umfrage des ZDK zwischenzeitlich Kurzarbeit angemeldet. Für Verkaufspersonal lag der Anteil sogar bei 90%. Das vorrangige Ziel lautete: Liquidität sichern um jeden Preis. Trotzdem fehlte den meisten Unternehmen schlicht die finanzielle Basis, um längere Umsatzausfälle durch eigene Mittel auffangen zu können. Im zurückliegenden Jahr lag die Rendite im Branchenschnitt bei gerade einmal 1,4% – in einem Umfeld mit hohem Investitions- und Kapitalbedarf zu wenig, um ausreichend Eigenmittel für Notlagen aufzubauen. Viele Betriebe sind deshalb nicht in der Lage, eine stabile Eigenkapitalquote von mindestens 25% aufzubauen und sind in der Folge zu stark von Fremdkapitalgebern abhängig. Wenn auch nur eine Bank die Kredite fällig stellt, bedeutet das für viele Unternehmen das Aus.
Der große Rest unterhalb der TOP-10-Handelsgruppen muss sich jedoch die Frage stellen, wie es nach Corona weitergehen soll. Die aktuelle Krise sollte als Chance begriffen werden, die eigene Situation schonungslos zu analysieren und die notwendigen Weichen für die Zukunft zu stellen. Dabei sollten alle wichtigen Anspruchsgruppen involviert werden: das umfasst Inhaber/Gesellschafter, die Geschäftsführung sowie die wichtigsten Kapitalgeber. Nur wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen, kann eine tragfähige Lösung erreicht werden.
Die sich bietenden Handlungsoptionen sind so vielfältig wie die einzelnen Unternehmenssituationen, es gibt kein Patentrezept für alle. Dennoch lassen sich fünf strategische Initiativen identifizieren, mit deren Hilfe Autohaus-Unternehmer heute starten sollten, um den Anschluss an morgen nicht zu verpassen:
Bewusstsein für Veränderungen schaffen: Herbert Diess arbeitet nach dem Motto „Aus der Sicht des Kunden denken! Es ist mein Unternehmen! Höchster Maßstab für mich und meine Mitarbeiter! Wirkung erzielen! Konzentration auf das Wesentliche! Mit weniger Mitteln mehr erreichen! Neu denken und vereinfachen! Rückgrat, Mut und Ausdauer! Aufrichtig sein! Positiv denken!“
Die anstehende Transformation wird zu tiefgreifenden Veränderungen in Hinblick auf Arbeitsformen, Organisationsstrukturen und Geschäftsmodellen führen. Der erste wesentliche Schritt ist, sich dessen bewusst zu werden und offen für einen Wandel zu sein. Vor allem gilt dies für die Unternehmensführung – sie muss dann im zweiten Schritt das ganze Unternehmen und alle Mitarbeiter auf den Wandel einstimmen und mit auf den Weg nehmen. Vielen klassischen Führungskräften liegt diese Form des Change Managements nicht – zu verschieden ist es von dem, was sie in der Vergangenheit gewohnt waren. An dieser Stelle kann ein Change Manager oder Coach von außen helfen, die Führungskräfte im Umgang mit der neuen Herausforderung zu schulen und zu unterstützen.
Strategische Positionierung prüfen: Die Margen im Automobilhandel werden weiter unter Druck geraten. Gleichzeitig sind hohe Investitionen in Digitalisierung, Infrastruktur und Mitarbeiter notwendig, um nicht den Anschluss zu verlieren. Jedes Unternehmen sollte seine individuellen Stärken und Schwächen hinterfragen und daraus seine Entwicklungschancen und mögliche Geschäftsrisiken ableiten. Bei der Strategiedefinition ist es wesentlich, nicht zu eingeschränkt zu denken, sondern möglichst offen zu sein für Neuinterpretationen der eigenen Rolle. So könnte man bspw. feststellen, dass es in einem Marktgebiet eine große Nachfrage nach Wohnmobilen gibt oder Unternehmen ein Interesse an geschlossenen Car-Sharing-Pools haben und dafür einen Servicepartner mit Wurzeln in der Region suchen. Beide Themen gehören nicht zum originären Autohaus-Geschäft, können aber mit der vorhandenen Kompetenz bedient werden.
Zukunftsfähigkeit garantieren: Der Wandel gelingt nicht sofort, sondern ist ein langer Weg. Um das Ziel im Morgen jedoch zu erreichen, müssen im Hier und Jetzt alle leistungswirtschaftlichen Prozesse auf den Prüfstand gestellt und optimiert werden (Operational Excellence). Dazu gehört auch eine Bewertung der eigenen Organisation und Führungsstruktur: Sind die richtigen Leute an Bord, um den Wandel einzuleiten und zu gestalten? Wenn nicht, müssen Gesellschafter und Geschäftsführung Maßnahmen einleiten, um die richtigen Leute an Bord zu holen. Gegebenenfalls benötigt man die Hilfe von erfahrenen Interim-Managern, die sich mit Krisensituationen auskennen und innerhalb kurzer Zeit der Mannschaft die nötige Dringlichkeit für die Situation vermitteln und die Umsetzung der notwendigen Maßnahmen gewährleisten können.
Finanzierungskraft sichern: Neben Kostendisziplin und Effizienzsteigerungen ist eine ausreichende Kapitalausstattung ebenso wesentlich wie eine ausgeglichene Kapitalstruktur. Hier gilt es genau zu analysieren, wie die Verbindlichkeiten des Unternehmens strukturiert sind und ob Fristigkeit und nicht zuletzt Konditionen der einzelnen Finanzierungen dazu passen (Fristenkongruenz). Dies sollte zusammen mit Banken und Finanzierungspartnern organisiert werden. Hierzu ist es aber notwendig, zuerst die eigene strategische Richtung in Form eines belastbaren Businessplans zu definieren. Der Businessplan sollte einen Zeithorizont von fünf Jahren abdecken und verschiedene Szenarien sowie eine integrierte Planungsrechnung aus Bilanz, Gewinn- und Verlust-Rechnung sowie Liquiditäts- und Cashflow-Planung enthalten.
Die Zukunft aktiv gestalten: Es gibt zahlreiche Gründe, warum kein langfristig tragfähiges Konzept zustande kommt: trotz Anpassungen erscheint die eigene Marktposition nicht mehr wettbewerbsfähig, es kann keine ausreichende Finanzierung für die notwendigen Investitionen in das neue Geschäftsmodell sichergestellt werden oder die Gesellschafter wollen den Weg nicht mehr mitgehen. In all diesen Fällen ist es wichtig, aktiv über verschiedene Alternativen nachzudenken, um den Unternehmenswert bestmöglich zu erhalten: das können Zusammenschlüsse oder Fusionen mit Wettbewerbern sein, erweiterte Kooperationen oder auch die Einleitung eines strukturierten Nachfolgeprozesses bis hin zu einem Verkauf des Unternehmens.
Den Umbruch im Autohandel zu meistern erfordert Innovationsbereitschaft, Mut zum unternehmerischen Handeln, aber auch Analysegeschick und eine gewisse Sachlichkeit den Fakten gegenüber. Es empfiehlt sich daher, seine strategische Neuausrichtung zusammen mit einem neutralen Berater zu erarbeiten, der nicht in die betrieblichen Strukturen eingebunden ist und einen unverzerrten Blick auf das Unternehmen mit seinen Stärken und Schwächen ermöglicht. So kann gewährleistet werden, dass eine umfassende Analyse erfolgt, die sowohl den individuellen Ansprüchen und Anforderungen des Autohauses / der Autogruppe entspricht als auch die sich wandelnden Marktvoraussetzungen berücksichtigt.